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Der Wassertropfen und das Meer

Es war einmal ein kleiner Wassertropfen, der an der Oberfläche des großen Meeres schwamm. Er hielt sich an einem Stöckchen fest und wogte auf und ab. Und wenn es hoch hinauf ging, dann jauchzte er vor Vergnügen. Wenn er aber landunter war, dann war er traurig und betrübt.

Wenn das Meer stürmisch war, ging es hoch her. Dann wurde der kleine Wassertropfen heftig auf- und abgewirbelt. In solchen unruhigen Zeiten klammerte er sich noch fester an sein Stöckchen. Oft war er ganz aufgewühlt und konnte nicht mehr richtig durchblicken. Wenn das Meer ruhig war, dann erfreute sich der kleine Wassertropfen daran, was er alles sehen konnte: Klippen, schöne Strände, Palmen und vor allem die wunderschöne Sonne, die jeden Abend im Meer baden ging und den Himmel durch ihre leuchtende Farbenpracht verzauberte.

Gerne hätte der kleine Wassertropfen das Schöne festgehalten, doch dies war nicht möglich, so sehr er sich auch bemühte. Das Meer ließ ihn gleiten, auf und ab und voran und weiter und weiter. „Ich will immer oben auf sein und wunderschöne Dinge sehen“, so waren seine Gedanken. Er ruhte sich an sein Stöckchen gelehnt aus und seufzte tief.

Da stieg plötzlich aus der Tiefe des Meeres ein anderer Wassertropfen auf. Er war sehr stattlich. Der kleine Wassertropfen klagte ihm sein Leid. „Immer wenn ich so herrliche Dinge sehe, dann sind sie so schnell wieder vorbei und ich kann nichts dagegen tun. Daher bin ich so traurig. Ich will, dass es immer schön ist.“

Der große Wassertropfen sah ihn gütig an und sagte: „Wenn du deine Wünsche aufgibst, dann wird es immer schön sein.“ „Wie meinst du das?“, fragte der kleine Wassertropfen. „Wenn Du wunschlos bist und loslässt,“ erklärte ihm der große Wassertropfen, „dann gleitest du mit dem großen Wogen, frei und unabhängig wohin auch immer.“ „Aber wie soll ich wunschlos sein, wenn ich so traurig bin?“ entgegnete der kleine Wassertropfen. „Lasse einfach alles los und tauche tief und dann sieh selbst“. Dies war alles, was ihm der große Wassertropfen erklärte. Dann ließ er sich wieder in die Tiefe sinken. Der kleine Wassertropfen blickte ihm nach.

Von da ab übte der kleine Wassertropfen jeden Tag, sein Stöckchen etwas loszulassen. Und er tauchte für Momente ein in das Meer und wiederholte dies Tag für Tag. Dabei glitt er immer tiefer und mehr und mehr in die Tiefe des Ozeans hinein. Und je tiefer er dabei kam, desto ruhiger wurde es. Und je ruhiger es wurde, desto klarer wurde er. Und je klarer er wurde, desto besser konnte er durchblicken und erkennen, was wirklich in der Tiefe war: Wasser, klares Wasser, überall !

Das Wogen war in der Tiefe unmerklich, es war sanft und der kleine Wassertropfen war ruhig und voller Zufriedenheit. Immer wieder übte er das Loslassen, das Sein ohne Wünsche. Er ließ los und tauchte tiefer und tiefer in die Stille des Ozeans ein. Von unten sah er hinauf. Er sah sein Stöckchen ruhig hin und her treiben. Er brauchte es nicht mehr. Er konnte es ziehen lassen wohin auch immer. Und er blieb in der Tiefe des Ozeans, ganz ruhig und klar.

Und eines Tages plötzlich, da geschah es: das große Loslassen. Denn eines Tages, da platzte plötzlich die Blase und der kleine Wassertropfen erlebte sich frei und unbeschwert. Und er konnte gleiten mit den großen Wogen, wohin auch immer, ohne Wünsche und ohne Wollen. Er stellte sich nicht mehr dem großen Willen entgegen, er ließ geschehen. Und dabei erkannte er ganz deutlich, dass er sich in nichts von dem unterschied, was war. Und dass alles ein großes Kommen und Gehen von Erscheinungen ist im Meer, das alles umgibt. Und er selbst ist Teil des Großen Ganzen, ohne Begrenzung, ja er ist das Meer, der Ozean selbst. Und der kleine Wassertropfen war eins mit allem, und er war alles und nichts, er war das Meer aller Möglichkeiten, er war die Grundlage von allem, er war der allumfassende, grenzenlose Ozean. Und er war, wie der große Ozean selbst war: STILL.

Mögen alle glücklich und voll Frieden sein. Mögen alle frei sein.

Petra Mertens

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